Kapitel 5: Vergleichende Unternehmensbewertung – Im Kontext sehen
Einleitung
Hey, willkommen zum fünften Kapitel unseres Leitfadens zur Aktienbewertung! Nachdem wir bereits tief in verschiedene Bewertungsmethoden eingetaucht sind, geht es jetzt darum, Unternehmen nicht isoliert, sondern im Kontext zu betrachten. Die vergleichende Unternehmensbewertung ist ein kraftvolles Werkzeug, um den Wert einer Firma im Verhältnis zu ihren Mitbewerbern und dem Markt zu verstehen.
Stell dir vor, du bist auf einem Markt voller Äpfel. Wie entscheidest du, welcher Apfel den besten Wert hat? Du vergleichst Größe, Farbe, Frische und natürlich den Preis. Genauso funktioniert es bei Unternehmen. Indem wir sie miteinander vergleichen, erhalten wir ein klareres Bild davon, ob eine Aktie über- oder unterbewertet ist.
In diesem Kapitel tauchen wir tief in die Methoden und Techniken der vergleichenden Unternehmensbewertung ein. Wir schauen uns Multiples an, analysieren Marktkennzahlen und verstehen, wie man Unternehmen im Kontext ihrer Branche beurteilt. Mach dich bereit für eine spannende Reise durch die Welt der relativen Bewertungen!
1. Was ist die vergleichende Unternehmensbewertung?
Die vergleichende Unternehmensbewertung, oft auch als relative Bewertung bezeichnet, ist eine Methode, bei der der Wert eines Unternehmens durch den Vergleich mit ähnlichen Unternehmen ermittelt wird. Anstatt zu versuchen, den intrinsischen Wert durch Diskontierung zukünftiger Cashflows zu berechnen, schauen wir uns an, wie der Markt ähnliche Unternehmen bewertet und leiten daraus den Wert des Zielunternehmens ab.
Grundprinzip:
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Vergleich: Beurteilung des Zielunternehmens anhand von Kennzahlen ähnlicher Unternehmen.
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Marktorientierung: Nutzung aktueller Marktinformationen und Preise.
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Einfachheit: Oft schneller und weniger komplex als absolute Bewertungsmethoden wie die DCF-Analyse.
2. Wichtige Bewertungsmultiplikatoren
Multiplikatoren sind zentrale Elemente der vergleichenden Bewertung. Sie sind Kennzahlen, die das Verhältnis zwischen dem Marktpreis einer Aktie und einer finanziellen Kennzahl des Unternehmens darstellen.
2.1. Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
Das KGV ist eines der bekanntesten Multiples.
Formel:
KGV = Aktienkurs dividiert durch Gewinn je Aktie (EPS)
Interpretation:
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Ein niedriges KGV kann auf eine Unterbewertung hindeuten.
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Ein hohes KGV kann auf hohe Wachstumserwartungen oder eine Überbewertung hinweisen.
2.2. Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV)
Das KUV setzt den Aktienkurs in Relation zum Umsatz je Aktie.
Formel:
KUV = Aktienkurs dividiert durch Umsatz je Aktie
Wann verwendet man das KUV?
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Bei Unternehmen mit negativen Gewinnen oder in frühen Wachstumsphasen.
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In Branchen mit niedrigen Margen, wo Umsatz wichtiger ist als Gewinn.
2.3. Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Bereits in Kapitel 3 ausführlich besprochen.
Formel:
KBV = Aktienkurs dividiert durch Buchwert je Aktie
2.4. Enterprise Value Multiples
Diese Multiples berücksichtigen den Unternehmenswert (Enterprise Value, EV) anstelle des Aktienkurses.
Enterprise Value (EV):
EV = Marktkapitalisierung + Schulden - Barmittel
2.4.1. EV/EBITDA
EV/EBITDA setzt den Unternehmenswert ins Verhältnis zum EBITDA (Earnings Before Interest, Taxes, Depreciation, and Amortization).
Formel:
EV/EBITDA = Unternehmenswert dividiert durch EBITDA
Vorteile:
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EBITDA ist unabhängig von Kapitalstruktur und Abschreibungsmethoden.
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Nützlich für branchenübergreifende Vergleiche.
2.4.2. EV/EBIT
EV/EBIT ähnelt dem EV/EBITDA, verwendet aber das EBIT (Gewinn vor Zinsen und Steuern).
Formel:
EV/EBIT = Unternehmenswert dividiert durch EBIT
Wann verwenden?
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Wenn Abschreibungen eine signifikante Rolle spielen.
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Bei kapitalintensiven Unternehmen.
2.4.3. EV/Umsatz
EV/Umsatz vergleicht den Unternehmenswert mit dem Gesamtumsatz.
Formel:
EV/Umsatz = Unternehmenswert dividiert durch Umsatz
Verwendung:
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Bei Unternehmen mit negativen Gewinnen.
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In Wachstumsbranchen.
3. Schritte der vergleichenden Unternehmensbewertung
3.1. Auswahl vergleichbarer Unternehmen
Kriterien:
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Branche: Unternehmen im selben Sektor oder mit ähnlichen Produkten.
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Größe: Ähnliche Marktkapitalisierung oder Umsatz.
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Geografische Präsenz: Fokus auf denselben Märkten.
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Wachstumsrate: Ähnliche historische und prognostizierte Wachstumsraten.
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Profitabilität: Vergleichbare Margen und Renditen.
Tipps:
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Nutze Branchenberichte und Analystenempfehlungen.
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Berücksichtige aktuelle Marktbedingungen.
3.2. Datenerhebung und Berechnung der Multiples
Schritte:
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Sammle aktuelle Finanzdaten: Aktienkurse, Gewinne, Umsätze usw.
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Berechne die relevanten Multiples für jedes vergleichbare Unternehmen.
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Erstelle eine Übersicht: Tabellen helfen bei der Visualisierung.
3.3. Analyse und Anpassung der Multiples
Durchschnittswerte und Median:
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Arithmetisches Mittel: Summe aller Werte dividiert durch die Anzahl.
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Median: Der mittlere Wert in einer geordneten Liste.
Outlier erkennen:
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Extremwerte können den Durchschnitt verzerren.
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Möglicherweise Ausreißer entfernen oder gesondert betrachten.
3.4. Anwendung der Multiples auf das Zielunternehmen
Schritte:
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Wähle das passende Multiple: Basierend auf der Branche und dem Unternehmensstadium.
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Berechne den Wert des Zielunternehmens: Multipliziere die Kennzahl des Zielunternehmens mit dem Durchschnitts-Multiple der Peers.
Formel:
Wert des Zielunternehmens = Kennzahl des Zielunternehmens × Durchschnitts-Multiple
Beispiel:
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Durchschnittliches KGV der Peers: 15
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Gewinn je Aktie des Zielunternehmens: 2 €
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Berechneter Aktienwert: 15 × 2 € = 30 €
4. Praktische Beispiele
4.1. Beispiel: Technologieunternehmen
Situation:
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Du möchtest ein Technologieunternehmen bewerten, das noch keinen Gewinn erzielt, aber schnell wächst.
Vorgehen:
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Wähle Multiples wie EV/Umsatz oder KUV, da das KGV nicht anwendbar ist.
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Vergleiche mit ähnlichen Wachstumsunternehmen in der Technologiebranche.
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Ermittle den Durchschnitt des EV/Umsatz-Multiples der Peers.
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Berechne den Unternehmenswert:
Unternehmenswert = Umsatz des Zielunternehmens × Durchschnitts-Multiple
4.2. Beispiel: Einzelhandelsunternehmen
Situation:
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Ein etabliertes Einzelhandelsunternehmen mit stabilem Gewinn und Umsatz.
Vorgehen:
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Verwende Multiples wie KGV, EV/EBITDA und EV/EBIT.
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Sammle Daten von vergleichbaren Einzelhändlern.
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Berechne den Durchschnitt und Median der Multiples.
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Bewerte das Zielunternehmen anhand dieser Multiples.
5. Vorteile der vergleichenden Unternehmensbewertung
5.1. Marktnähe
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Aktuelle Bewertung: Reflektiert die momentanen Marktbedingungen und Investorenstimmungen.
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Relevanz: Nutzt reale Daten von tatsächlich gehandelten Unternehmen.
5.2. Einfachheit und Schnelligkeit
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Zeitersparnis: Weniger komplex als DCF-Modelle.
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Benutzerfreundlich: Verständlich auch für Nicht-Experten.
5.3. Branchenübergreifende Anwendung
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Flexibilität: Kann in verschiedenen Branchen und Unternehmensgrößen angewendet werden.
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Anpassungsfähig: Auswahl passender Multiples je nach Unternehmenssituation.
6. Grenzen und Herausforderungen
6.1. Vergleichbarkeit der Unternehmen
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Einzigartigkeit: Jedes Unternehmen ist individuell; perfekte Vergleiche sind selten.
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Unterschiedliche Geschäftsmodelle: Selbst innerhalb derselben Branche können Geschäftsmodelle variieren.
6.2. Markteffizienz
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Irrationalität des Marktes: Märkte können über- oder unterbewertet sein.
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Blasenbildung: Multiples können durch spekulative Überschwang aufgebläht sein.
6.3. Datenqualität
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Verfügbare Informationen: Nicht alle benötigten Daten sind immer zugänglich.
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Aktualität: Veraltete Daten können zu Fehlbewertungen führen.
6.4. Ignorieren individueller Faktoren
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Unternehmensspezifische Risiken: Wird möglicherweise nicht ausreichend berücksichtigt.
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Zukunftspotenzial: Einzigartige Wachstumsmöglichkeiten des Zielunternehmens könnten übersehen werden.
7. Erweiterte Ansätze der vergleichenden Bewertung
7.1. Präzedenzfall-Transaktionen
Anwendung von Multiples basierend auf vergangenen M&A-Transaktionen ähnlicher Unternehmen.
Vorteile:
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Reale Transaktionswerte: Reflektieren, was Käufer bereit waren zu zahlen.
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Marktpreis: Berücksichtigt die Kontrolle und Synergien.
Herausforderungen:
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Einmaligkeit von Deals: Bedingungen können sehr unterschiedlich sein.
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Datenzugang: Details sind oft vertraulich.
7.2. Sum-of-the-Parts (SOTP) Bewertung
Bewertung einzelner Geschäftsbereiche separat und Summierung zum Gesamtwert.
Anwendung:
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Bei diversifizierten Unternehmen mit verschiedenen Geschäftssegmenten.
Schritte:
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Segmentierung: Aufteilung des Unternehmens in seine Geschäftsbereiche.
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Bewertung jedes Segments: Anwendung passender Multiples für jedes Segment.
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Summierung: Addition der Werte und Anpassung um Unternehmensschulden.
7.3. Adjustierte Multiples
Anpassung der Multiples an Unterschiede zwischen den Unternehmen.
Anpassungen können berücksichtigen:
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Wachstumsraten
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Profitabilität
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Kapitalstruktur
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Risikoprofile
Beispiel:
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Ein Unternehmen hat eine höhere Wachstumsrate als die Peers. Das rechtfertigt möglicherweise ein höheres Multiple.
8. Kritische Betrachtung und Fallstricke
8.1. Blinde Anwendung von Multiples
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Übernahme von Durchschnittswerten ohne hinterfragte Anpassungen kann zu Fehlbewertungen führen.
8.2. Vernachlässigung qualitativer Faktoren
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Faktoren wie Managementqualität, Markenstärke oder Innovationsfähigkeit werden nicht direkt erfasst.
8.3. Zeitliche Unterschiede
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Zyklen und Trends: Marktbedingungen können sich schnell ändern. Frühere Multiples sind möglicherweise nicht mehr relevant.
8.4. Emotionale Marktphasen
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In Boom-Phasen können Bewertungen überhöht sein.
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In Krisenzeiten können Werte zu niedrig ausfallen.
9. Integration in die Investmentstrategie
9.1. Ergänzung zu anderen Methoden
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Kombination mit DCF: Nutzung der vergleichenden Bewertung als Plausibilitätscheck zur DCF-Analyse.
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Sicherheitsnetz: Hilft, extreme Ergebnisse einzelner Methoden auszugleichen.
9.2. Timing-Entscheidungen
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Marktchancen erkennen: Identifizierung von Unter- oder Überbewertungen im Vergleich zum Markt.
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Einstiegs- und Ausstiegszeitpunkte: Basierend auf relativen Bewertungen.
9.3. Portfolio-Management
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Diversifikation: Auswahl von Aktien aus verschiedenen Branchen basierend auf relativen Bewertungen.
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Risikomanagement: Vermeidung von Konzentrationsrisiken durch Übergewichtung überbewerteter Sektoren.
10. Aktuelle Trends und Herausforderungen in der vergleichenden Bewertung
10.1. Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle
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Tech-Unternehmen: Traditionelle Multiples können weniger relevant sein.
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Plattform-Ökonomie: Umsatz ist nicht immer ein guter Indikator für Wert.
10.2. ESG-Kriterien
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Nachhaltigkeit: Steigende Bedeutung von Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren.
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Anpassung der Multiples: Unternehmen mit hohen ESG-Standards könnten höhere Multiples rechtfertigen.
10.3. Globale Märkte und politische Unsicherheiten
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Handelskriege: Beeinflussen die Bewertungen verschiedener Sektoren.
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Regulatorische Änderungen: Können Branchen plötzlich attraktiver oder riskanter machen.
11. Praktische Tipps für eine erfolgreiche vergleichende Bewertung
11.1. Sorgfältige Auswahl der Peers
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Qualitative Analyse: Überprüfe Geschäftsmodelle und Strategien.
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Aktualität: Nutze die neuesten verfügbaren Daten.
11.2. Verwendung mehrerer Multiples
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Ganzheitlicher Ansatz: Kombiniere verschiedene Multiples, um ein umfassendes Bild zu erhalten.
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Gewichtung: Passe die Bedeutung der Multiples an die Branchengegebenheiten an.
11.3. Berücksichtigung makroökonomischer Faktoren
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Zinsumfeld: Beeinflusst die Kapitalbeschaffungskosten und Bewertungen.
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Wirtschaftswachstum: Hat direkten Einfluss auf Unternehmensleistungen.
11.4. Kontinuierliche Aktualisierung
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Regelmäßige Überprüfung: Marktbedingungen und Unternehmensdaten ändern sich ständig.
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Anpassungen vornehmen: Sei bereit, deine Bewertung basierend auf neuen Informationen zu überarbeiten.
12. Weiterführende Literatur und Ressourcen
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Bücher:
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"Equity Asset Valuation" von Jerald E. Pinto et al.
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"Valuation: Measuring and Managing the Value of Companies" von McKinsey & Company
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Online-Ressourcen:
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Finanzplattformen wie Bloomberg, Reuters und Yahoo Finance für aktuelle Marktdaten.
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Branchenberichte von Analystenhäusern und Wirtschaftsprüfern.
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Kurse und Seminare:
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CFA-Kurse: Vertiefen das Verständnis der Bewertungsmethoden.
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Online-Kurse auf Plattformen wie Coursera, edX oder Udemy.
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13. Abschließende Gedanken
Die vergleichende Unternehmensbewertung bietet eine pragmatische und effektive Methode, um den Wert eines Unternehmens im Kontext seiner Wettbewerber und des Marktes zu bestimmen. Indem wir Unternehmen nicht isoliert betrachten, sondern sie in Relation zu anderen setzen, gewinnen wir wertvolle Einblicke und können fundiertere Investmententscheidungen treffen.
Dennoch ist es wichtig, stets kritisch zu bleiben und die Grenzen dieser Methode zu erkennen. Kein Unternehmen ist exakt wie das andere, und Märkte können irrational reagieren. Eine Kombination aus vergleichender Bewertung und anderen Bewertungsmethoden sowie eine kontinuierliche Beobachtung der Marktbedingungen sind entscheidend für den Erfolg.
Bleibe neugierig, hinterfrage Annahmen und nutze die Werkzeuge der Finanzanalyse, um deine Ziele zu erreichen. Die Welt der Investments ist komplex, aber mit dem richtigen Wissen und der richtigen Einstellung kannst du sie erfolgreich navigieren.